7
Am nächsten Tag regnete es immer noch. Willem verließ am Vormittag das Haus, um, wie gewohnt, die üblichen Zeitungen zu lesen, kehrte aber schon bald in sein Ein-Zimmer-Appartement zurück, zum einen wegen des schlechten Wetters – er hatte den neuen Schirm zu Hause vergessen –, zum anderen wollte er da sein, falls Pia sich meldete. Während der Regen monoton gegen das Fenster trommelte, lag Willem auf der Couch und versuchte zu lesen. Er konnte sich aber nicht konzentrieren. Dann schaltete er den Fernseher ein, verfolgte eine halbe Stunde eine Sendung für Hobby-Gärtner, schaltete wieder aus und schlief ein. Um kurz vor sechs weckte ihn das Telefon.
Es war Pia, gut gelaunt wie immer.
»Na, mein Lieber, was macht das süße Leben?«
Willem war sofort hellwach.
»Hast du mit Nikita gesprochen?«, fragte er ungeduldig.
»Ja, habe ich.«
»Was hast du ihm gesagt?«
»Alles.«
»Und, wird er mitmachen?«
»Ich glaube schon. Aber zuerst will er dich sehen. Das ist doch verständlich.«
Willem versuchte noch zu erfahren, was Pia ihrem russischen Freund genau über ihn und seinen Plan erzählt hatte.
Aber Pia war in Eile.
»Ich muss in den Club. Ich bin schon spät dran.«
Sie vereinbarten, sich am nächsten Tag zur Mittagszeit in einem Pub in Hammersmith zu treffen. Sie würde Nikita mitbringen. Willem kannte das Pub. Er war im letzten Sommer mit Pia einmal da gewesen, war sich aber nicht sicher, ob er es wieder finden würde. Sicherheitshalber ließ er sich deshalb von Pia den Weg beschreiben.
Anschließend suchte er die Mappe heraus, in die er ordentlich alle Zeitungsausschnitte über Henry Hewitt eingeheftet hatte. Mehr konnte er im Augenblick nicht tun.
Eine sanfte Brise schob die letzten Wolken am sonst strahlend blauen Himmel vorüber. Die Luft war klar. Und die Sonne tilgte die feuchten Spuren der überstandenen Regentage von den Straßen. Willem verließ in aufgeräumter Stimmung das Haus, freudig erregt, hoffnungsvoll wie vor einem Vorstellungsgespräch. Er hatte sich schon halb damit abgefunden, dass Pia den Russen in sein Unternehmen einbeziehen wollte. Er vertraute Pia, also musste er auch dem Russen vertrauen, sagte er sich. Zu dritt würde es vielleicht doch einfacher werden. Und vielleicht brauchte er sich selbst gar nicht an der eigentlichen Entführung zu beteiligen, sondern könnte sich völlig auf die Verhandlungen mit Hewitt konzentrieren. Das Geld, dachte Willem, würde sicherlich nicht zu einem Problem werden. Aus Hewitt wäre genug für alle drei herauszuholen. Auch hatte Neugier sein anfängliches Misstrauen gegenüber dem Russen zerstreut.
Die Piccadilly Line ratterte von Earl’s Court mit hoher Geschwindigkeit nach Westen, unterbrach mit wiederholtem Ruck ihre Fahrt kurz in Barons Court, sauste dann polternd weiter, bremste wieder in Hammersmith überstürzt ab. Willem sprang die Stufen empor, die Mappe mit den Zeitungsartikeln über Hewitt fest unter den Arm geklemmt. In der Shopping-Mall, oberhalb der U-Bahn-Station, herrschte geschäftiges Treiben. Büroangestellte und Verkäuferinnen nutzten ihre Mittagspause für kleinere Besorgungen in den Supermärkten oder kauten auf ihren Sandwiches herum, während sie gedankenverloren in die Schaufenster schauten. Menschen aller Hautschattierungen waren darunter, beinahe mehr Nicht-Europäer als Europäer, wie in vielen Stadtteilen Londons außerhalb des Westends.
Willem bahnte sich zielstrebig seinen Weg durch das bunte Völkergemisch. Er versuchte, sich ein Bild von Nikita zu machen. Er konnte sich aber keinen Russen vorstellen, der zu Pia passte.
Draußen tobte der Verkehr. Die Wegbeschreibung, die Pia ihm gegeben hatte, war Willem schon wieder entfallen. Er erkannte aber die Stadtautobahn wieder, die sich in einem weiten Bogen über die breiten Straßen rund um die Shopping-Mall spann. Irgendwie musste er das Knäuel von Straßen nach Süden hin überwinden. Nur wie? Er blieb gelassen. Er wusste, er hatte genug Zeit. Seelenruhig ließ er sich von seinem Gefühl leiten. Und irgendwie hatte er es nach zehn Minuten geschafft, über Fußgängerampeln, unter Brücken und Unterführungen hindurch auf die andere Seite der Stadtautobahn zu gelangen. Von hier aus konnte es nur noch ein Katzensprung sein. Richtig. Erst rechts, dann links, dann war auch schon der Fluss zu sehen. Endlich. Am linken Haus am unteren Ende hing ein buntbemaltes Schild: »Rutland«. Er war am Pub angekommen.
Willem schaute auf die Uhr. Er war etwa eine Viertelstunde zu früh. Sollte er reingehen und sich einen Drink holen? Willem wollte erst nach Pia und dem Russen sehen. Alle Bänke waren besetzt. Auch an der Ufermauer entlang standen zumeist junge Leute in Gruppen herum, unterhielten sich angeregt, lachten, genossen die Sonne, Unmengen von leeren Gläsern und Bierflaschen zwischen ihren Beinen.
»Will! Hier sind wir!«
Willem schaute sich um, versuchte Pias Stimme zu orten.
»Will! Hier rüber!«
An einem der spartanischen Holztische entdeckte er endlich Pia. Ganz klein und versunken saß sie da, eingerahmt von zwei bulligen Kerlen. Kein Zweifel, der linke musste Nikita sein. Sie schmiegte sich an ihn. Nervös ging Willem auf die beiden zu.
»Will, das ist Nikita. Nikita, das ist Will.«
Der Kerl zu Pias Rechten schien nicht zu ihnen zu gehören.
»Ich freue mich, dich kennen zu lernen«, sagte Willem förmlich, streckte seine Hand über den Tisch aus und erhielt einen kräftigen Händedruck.
»Setz dich!«, forderte ihn Nikita auf.
Die Leute, die auf Willems Seite des Tisches saßen, rückten zusammen. Er nahm verlegen Platz, Nikita genau gegenüber. Genauso hatte er sich einen Russen vorgestellt, breitschultrig und mit einem bäuerlichen, unrasierten Gesicht, das blonde Haar kurz geschnitten. Er sah aber ganz und gar nicht wie ein Mann aus, der äußerlich zu der kleinen, südländischen Pia passte.
Nikita blinzelte Willem mit seinen tief liegenden Knopfaugen zu.
»Ich werde uns erst mal was zu trinken holen. Auch ein Lager?«
Willem bot sich an, für die Getränke zu sorgen. Doch Nikita winkte ab. Pia und Nikita mussten schon eine ganze Weile hier gesessen haben. Ihre Pint-Gläser waren fast leer. Nikita erhob sich, Willem musterte ihn. Nikita musste beinahe so groß wie Henry Hewitt sein, aber noch kräftiger. Seine Muskelpakete zeichneten sich unter der engen Jeans und dem engen T-Shirt ab.
»Nun, was sagst du zu meinem Prachtstück?«
»Was soll ich sagen?«, wich Willem aus. »Sympathisch.«
»Ich bin schon ein wenig betrunken. Ich habe gestern nicht gearbeitet und war bei Nikita. Wir sind gleich vom Bett hierher. Wir haben nicht einmal gefrühstückt.« Nach einer kleinen Pause sagte Pia: »Ist das nicht ein toller Tag?«
Willem nickte. Nikita kam mit drei Pints Lager zurück, die fast winzig in seinen breiten Händen wirkten. Unter seinen Achseln holte Nikita eine Tüte Kartoffelchips hervor und warf sie lässig vor Pia auf den Tisch.
»Hier, damit du mir nicht gleich betrunken von der Bank fällst.«
Pia umarmte ihn stürmisch.
»Das ist aber lieb von dir.«
Nikita knallte sein Glas an das von Willem und nahm einen kräftigen Schluck. Er lächelte ihn freundlich an.
»Du hast ja eine tolle Sache vor. Und du willst also, dass Pia und ich da mitmachen. Das finde ich toll von dir.«
Willem schaute Pia an, die komplizenhaft zurückblinzelte. Sie schien Nikita offenbar erzählt zu haben, dass Willem beide, Pia und Nikita, von vornherein in seine Pläne einbeziehen wollte.
»Was ist das?«
Nikita tippte auf den orangefarbenen Schnellhefter, der vor Willem auf dem Tisch lag.
»Das sind einige Informationen, die ich für unser Unternehmen zusammengetragen habe. Sie könnten nützlich sein. Ihr solltet sie euch mal ansehen, aber besser zu Hause.«
»Ist ja toll. Du bist ja ein echter Profi.«
Nikita schien wirklich beeindruckt zu sein.
»Ich habe dir doch gesagt, Will ist ein toller Typ«, sagte Pia.
Toll schien ein Lieblingswort von Pia und Nikita zu sein, dachte Willem. Oder es lag an ihrem begrenzten Wortschatz, dass sie es ständig wiederholten. Er fühlte sich in jedem Fall geschmeichelt.
»Wenn ihr wollt, kann ich euch über die Personen, um die es geht, auch etwas erzählen.«
Willem wollte den Namen Hewitt in der Öffentlichkeit nicht erwähnen.
»Das ist nicht nötig. Jetzt nicht«, antwortete Nikita. »Pia hat mir schon einiges erzählt. Und ich denke, es ist genauso wichtig, dass wir gut miteinander auskommen.«
Nikita lachte Willem an, hob sein Glas und animierte ihn mitzutrinken.
»Du bist aus Belgien?« Bevor Willem etwas sagen konnte, legte Nikita wieder los. »Belgien hat tolle Biere. Ich bin einmal da gewesen, mit einem Freund. War toll. Vor allem die dunklen Biere haben uns fast umgehauen. Nette Leute da. Auch tolle Mädchen.«
Pia versetzte Nikita einen Hieb in die Rippen. Nikita umschlang Pia ganz fest, dass Willem erst dachte, er würde sie erdrücken.
»Keine Angst. Keine war so schön wie du.«
Pia lag wie ein kleines Kind in Nikitas Armen. Zärtlich küsste er sie auf die Nase.
Willem machten die Vertraulichkeiten zwischen den beiden etwas verlegen. Er schaute auf den Tisch. Nikita und er hatten ihr Bier ausgetrunken. Vor Pia stand noch ein fast volles Glas.
»So! Das ist meine Runde. Noch mal drei Lager?«
»Tolle Idee!«, sagte Nikita. »Für mich lieber noch mal Chips, Salt and Vinegar«, bat Pia.
»Werft ein Auge auf die Mappe, bitte!«
»Wird gemacht, Boss!«, brachte Nikita wie selbstverständlich über die Lippen.
Willem wartete geduldig an der Theke, bis die Reihe an ihm war.
»Zwei Pints Lager und Chips, bitte, Salt and Vinegar.«
Er fühlte sich erleichtert. Die erste Begegnung mit Nikita lief recht gut an. Dieser Nikita schien zwar kein Überflieger zu sein, aber durchaus ein netter Kerl. Willem gab ein großzügiges Trinkgeld und balancierte die randvollen Gläser an ihren Platz zurück, die Tüte Chips zwischen zwei Finger geklemmt.
»Toll! Danke!«
»Dank dir, Will!«
Beide lösten sich aus der Umarmung. Pia stürzte sich auf die Chips, die stark nach Essig rochen. Nikita trank sofort das halbe Glas Bier in einem Zug aus.
Willem glaubte, dass Nikita ihm irgendetwas sagen wollte. Jeder Fremde, der nach London kam, brachte seine Geschichte mit, die er früher oder später anderen erzählen wollte. Nur Willem kannte dieses Bedürfnis nicht. Was sollte er auch erzählen, und wem?
Er überlegte einen Augenblick und fragte Nikita dann: »Seit wann bist du in London?«
Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht. Nikita legte in seinem einfachen Englisch los.
Seit zehn Jahren lebte er in London, als politischer Asylant, wie er mit stolzer Stimme sagte. Er war mit knapp achtzehn Jahren in die russische, damals noch sowjetische Handelsmarine eingetreten. Gleich seine erste Auslandsfahrt führte ihn nach Schottland. Nikita nannte den Namen einer schottischen Hafenstadt, die Willem nicht kannte oder deren Namen er wegen Nikitas fehlerhafter Aussprache nicht richtig verstand. Als sein Frachter wieder ablegte, sprang Nikita über Bord, mitten in das Hafenbecken, trotz des eiskalten Wassers. Schottische Seeleute zogen ihn heraus und übergaben ihn den britischen Behörden. Für ein paar Wochen steckte man ihn ins Gefängnis. Fast zwei Jahre dauerte es, bis Nikita offiziell als politischer Flüchtling anerkannt wurde. Wenig später war die Sowjetunion zusammengebrochen.
»Da lebte ich schon in London. Ich hätte zurückkehren können. Aber auf mich wartete niemand. Meine Mutter ist schon lange tot. Und mein Vater, na ja, der Wodka.« Nikita wurde sentimental. »Ich bin der verlorene Sohn ohne Rückkehr«, formulierte er etwas schief, aber eindrucksvoll.
»Dafür habe ich dich gefunden«, sagte Pia zärtlich und küsste ihn.
Dann sah Pia Willem an.
»Ist das nicht toll? Einfach von solch einem riesigen Schiff ins kalte Wasser zu springen?«
Pia schien wirklich tief beeindruckt zu sein, obwohl sie die Geschichte sicherlich nicht zum ersten Mal gehört hatte.
»Wirklich toll!«, sagte jetzt auch Willem, um Nikita seine Anerkennung auszudrücken.
Er dachte auch daran, dass Nikitas Waghalsigkeit bei der Entführung noch nützlich sein könnte. Er selbst – da machte Willem sich nichts vor – könnte nie Nikitas Mut aufbringen, ganz gleich in welcher Situation.
Die nächste Runde zahlte wieder Nikita. Pia trank eine Cola, weil sie am Abend wieder tanzen müsste, wie sie zu Nikita sagte. Sie plauderten weiter über London, lobten die Pubs, beklagten die hohen Preise. Zum Abschied lud Nikita Willem für den folgenden Sonntag zu sich nach Hause ein. Er teilte sich eine Wohnung in Shepherd’s Bush mit ein paar anderen Leuten, nicht weit von Hammersmith. Er und Pia würden kochen.
»Unser tolles Ding können wir dann ausführlich bereden«, schlug Nikita vor.
Erst in der U-Bahn bemerkte Willem, dass er immer noch die orangefarbene Mappe mit sich herumschleppte. Sein Kopf war ganz heiß. Es lag wohl ebenso am Bier wie an der Sonne. Er war mit dem Verlauf des Nachmittags zufrieden. Er hatte sich wohl in der Gesellschaft der beiden gefühlt, behaglich, beinahe geborgen. So unterschiedlich Nikita und Pia äußerlich auch sein mochten, so schienen sie doch zu harmonieren. Beide waren offensichtlich gewillt, sich nie unterkriegen zu lassen, und sich – koste es, was es wolle – ihren Teil vom Leben zu erobern.
Nikitas unkomplizierte Art gefiel Willem, natürlich auch, dass Nikita ihn einmal »Boss« genannt hatte. Er freute sich auf den nächsten Sonntag.